Meine Frau und ich verbringen diese Wochen einen Kururlaub in Kołobrzeg an der polnischen Ostseeküste. Kur klingt für mich besorgniserregend. Es war für mich immer etwas für ältere Herrschaften, aber plötzlich sind wir in einem Alter, wo sich körperliche Baustellen auftun und man den Aufenthalt hier über alle Maßen genießt. 🙂
Allerdings sind wir bei weitem nicht die jüngsten Gäste.
Kołobrzeg hieß früher Kolberg und wurde 1945 im Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges fast vollständig zerstört. Im Zentrum stehen daher nur noch wenige historische Gebäude. Aber der Strand und die angrenzenden Parks sind wirklich sehr schön. Ich liebe die Ostsee zu allen Jahreszeiten. Sie hat einen besonderen Reiz.
Ich habe also diese Woche nur wenige Emails geschrieben und nur ab und zu mit Kunden kommuniziert. Stattdessen gibt es jeden Tag Joggen am Strand oder ausgedehnte Wanderungen.
Esther hatte heute einen vollen Kur-Terminplan, also bin ich nachmittags alleine los und habe die Umgebung erkundet. Dabei gab es viel Zeit zum Nachdenken.
Obwohl ich mich selten zu Politik äußere, musste ich an verschiedene Ereignisse denken, die uns im Moment beschäftigen – die Vorwahlen in den USA (irgendwie tun mir die Wähler dort leid), die Flüchtlingswelle oder die Zerreißprobe, in der sich die Europäische Union befindet, Radikalisierungen in vielen Ländern der Welt, das Erstarken von politischen Bewegungen, deren Programme in großen Teilen völlig unakzeptabel sind und die Tatsache, dass schrecklich viele Länder der Welt im Prinzip von unfähigen, korrupten oder machtgierigen Menschen regiert werden, die sich keinen Deut um das Wohlergehen der Bürger ihrer Länder scheren und die nach zivilisierten Wertmaßstäben eigentlich sofort entlassen, oder (anders würde es gar nicht gehen) entmachtet werden müssten.
Ich habe beruflich mit Menschen aus vielen Nationen in allen Teilen der Welt zu tun. Es ist großartig, mit ihnen zusammen zu arbeiten, aber es gibt fast niemanden, der mit Optimismus auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des eigenen Landes oder der Welt blickt. Das ist besorgniserregend. Man könnte viele Dinge aufzählen, die gründlich schief laufen. Irgendwie sieht es symbolisch ein bisschen so aus, wie auf den Bildern, die ich heute aufgenommen habe. Hier nur ein paar wenige Beispiele:
- Politikverdrossenheit – aus meiner Sicht eine große Gefahr für jede Demokratie, weil ernsthafte Bemühungen, den Ursachen zu begegnen, unter denen, die diese Verdrossenheit verursachen, nicht deutlich erkennbar sind. Glaubwürdigkeit zählt offensichtlich weniger als Einfluss und Macht. Desinteresse und Selbstbezogenheit sind trotzdem nicht zu rechtfertigen.
- Populismus – macht mir große Sorgen, a) weil die Menschen aus der Geschichte nichts lernen, b) weil es das Mittel äußerst mittelmäßiger Menschen ist, die nach Macht streben und c) weil es die Gehirne vieler Menschen einfach abschaltet.
- Viele fähige und integere Menschen entscheiden sich gegen eine politische Karriere – die Eigenschaften, die für Machtgewinn und Machterhalt erforderlich sind, sind leider zu großen Teilen mit den Eigenschaften, die für ein gutes Regieren gebraucht werden, nicht kompatibel. Man muss sich nur ansehen, wie absurd Wahlkampagnen selbst in hochentwickelten Staaten geworden sind.
- Tendenzen zum Separatismus – es scheint als ob die Fähigkeiten zum Konsens, aber auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, weltweit abnehmen, auch innerhalb der hochentwickelten Demokratien. Das trifft nicht nur auf die politische Klasse zu, sondern ist ein generelles Thema.
- Radikalisierung – egal, ob nun aus politischen oder religiösen Gründen. Sie führt zu Menschenverachtung und Hass, ist vollkommen unakzeptabel, in welcher Form auch immer.
- Globale Probleme, die sich exponentiell entwickeln, können nicht grundhaft gelöst werden und führen zu noch nicht absehbaren Konflikten – wenn nicht Gier, Machtstreben, Ignoranz, Hass und vielen weiteren, (für das Zusammenleben von Menschen in einer globalisierten Welt) schädlichen Eigenschaften, Einhalt geboten wird. Wer soll dafür sorgen? Diese Dinge können nicht mehr nur lokal gelöst werden.
- Zukunftsangst – sie treibt viele Menschen in die Arme von Meinungsmachern, die ungenügende Lösungen zu bieten haben.
- Falsch verstandene political correctness – ein mittlerweile entsetzliches Phänomen, welches verhindert, dass Probleme beim richtigen Namen genannt werden, auch wenn sie äußerst unangenehm sind und dadurch werden sie auch nicht nachhaltig adressiert. Einige Gründe für falsche political correctness sind allerdings oben beschrieben.
- Die Prinzipien der Rechtschaffenheit vor Gott spielen nur noch eine untergeordnete Rolle.
Vor ca. 2100 Jahren hat ein Mann mit Regierungsverantwortung, der Mosia hieß, eine denkwürdige Rede zum Thema Politik und die damit verbundene Verantwortung in allen Teilen der Gesellschaft gehalten. Ich finde es äußerst spannend, sich diese Rede ganz genau anzuschauen und einige der Kernpunkte in die heutige Zeit zu übertragen.
Buch Mormon, Mosia, Kapitel 29:
Ausgangssituation: Mosia war König der Nephiten oder in heutigen Terms Regierungschef. Er war alt und nun ging es um seine Nachfolge. Dazu wurde das Volk befragt.
1 Als nun Mosia dies getan hatte, sandte er hinaus in das ganze Land, zu allem Volk, denn er wollte wissen, wen sie zum König haben wollten.
2 Und es begab sich: Die Stimme des Volkes kam, nämlich: Wir wünschen, daß dein Sohn Aaron unser König und unser Herrscher sei.
3 Nun war Aaron in das Land Nephi hinaufgegangen, darum konnte der König ihm das Königtum nicht übertragen; auch wollte Aaron das Königtum nicht auf sich nehmen, und auch kein anderer von den Söhnen Mosias war willens, das Königtum auf sich zu nehmen.
Mosia war ein weiser Mann mit einer beachtlichen Weitsicht.
4 Darum sandte König Mosia abermals zum Volk; ja, nämlich ein geschriebenes Wort sandte er zum Volk. Und dies waren die Worte, die geschrieben waren, nämlich:
5 Siehe, o ihr, mein Volk, oder meine Brüder, denn dafür halte ich euch, ich wünsche, ihr würdet euch die Sache überlegen, die zu überlegen ihr aufgerufen seid—denn ihr habt den Wunsch, einen König zu haben.
6 Nun verkünde ich euch, daß der, dem das Königtum zu Recht gehört, abgelehnt hat und das Königtum nicht auf sich nehmen will.
7 Und nun, wenn an seiner Statt ein anderer bestimmt würde, siehe, so fürchte ich, es würden Streitigkeiten unter euch entstehen. Und wer weiß, vielleicht würde mein Sohn, dem das Königtum gehört, sich dem Zorn zuwenden und einen Teil dieses Volkes mit sich fortziehen, und das würde zu Kriegen und Streitigkeiten unter euch führen, was die Ursache für großes Blutvergießen wäre und den Weg des Herrn verkehren, ja, und die Seele vieler Menschen vernichten würde. …
10 Und nun laßt uns weise sein und vorausschauend und das tun, was dem Frieden dieses Volkes dienlich ist.
Mosia schlägt nun vor, einige Dinge grundlegend zu ändern, um das Volk vor ungerechter Herrschaft zu schützen. Er definierte Kriterien, die Personen für ein Regierungsamt qualifizieren oder disqualifizieren.
11 Darum will ich für meine übrigen Tage euer König sein; doch laßt uns Richter bestimmen, die dieses Volk gemäß unserem Gesetz richten sollen; und wir wollen die Angelegenheiten dieses Volkes neu ordnen, denn wir werden weise Männer als Richter bestimmen, die dieses Volk gemäß den Geboten Gottes richten werden.
12 Nun wäre es besser, der Mensch würde von Gott gerichtet als von Menschen, denn die Richtersprüche Gottes sind immer gerecht, aber die Richtersprüche der Menschen sind nicht immer gerecht.
13 Darum, wenn es möglich wäre, daß ihr gerechte Männer zu Königen hättet, die die Gesetze Gottes einsetzen und dieses Volk gemäß seinen Geboten richten würden, ja, wenn ihr Männer zu Königen haben könntet, die ebenso handeln würden, wie es mein Vater Benjamin für dieses Volk getan hat—ich sage euch, wenn dies immer der Fall sein könnte, dann wäre es ratsam, daß ihr immer Könige hättet, die über euch herrschen.
14 Und auch ich selbst habe mich mit aller Macht und allen Fähigkeiten, die ich besitze, bemüht, euch die Gebote Gottes zu lehren und im ganzen Land Frieden aufzurichten, damit es keine Kriege noch Streitigkeiten, kein Stehlen noch Plündern, kein Morden noch sonst eine Art von Übeltun gebe;
In den folgenden Versen warnt Mosia deutlich vor den Folgen ungerechter Herrschaft. Wie aktuell dies doch alles ist.
16 Nun sage ich euch, weil aber nicht alle Menschen gerecht sind, ist es nicht ratsam, daß ihr einen König oder Könige haben sollt, die über euch herrschen.
17 Denn siehe, wieviel Übeltun wird doch durch einen schlechten König verursacht, ja, und welch große Zerstörung! …
21 Und siehe, nun sage ich euch: Ihr könnt einen Übeltäter von König nicht entthronen, außer durch viel Streit und großes Blutvergießen.
22 Denn siehe, er hat im Übeltun seine Freunde, und er hält seine Wachen um sich; und er zerreißt die Gesetze derer, die vor ihm in Rechtschaffenheit regiert haben; und er tritt die Gebote Gottes mit Füßen;
23 und er führt Gesetze ein und macht sie unter seinem Volke kund, ja, Gesetze nach der Art seiner eigenen Schlechtigkeit; und wer auch immer seine Gesetze nicht befolgt, den läßt er vernichten; und wer auch immer sich gegen ihn auflehnt, gegen den sendet er seine Heere zum Kampf, und wenn er es vermag, so vernichtet er sie; und so verkehrt ein ungerechter König die Wege aller Rechtschaffenheit.
24 Und nun siehe, ich sage euch: Es ist nicht ratsam, daß solche Greuel über euch kommen.
Nun verweist Mosia auf die Verantwortung derer, die eine Regierung wählen und warnt nachdrücklich in Vers 27 vor den Folgen, wenn die Mehrheit des Volkes sich falsch entscheidet – aus welchen Gründen auch immer – Populismus, Verdrossenheit, Wertewandel, Glaubensverlust, sich verschiebende Interessen etc.
25 Darum erwählt euch mit der Stimme dieses Volkes Richter, damit ihr gemäß den Gesetzen gerichtet werdet, die euch von unseren Vätern gegeben worden sind und die richtig sind und die sie aus der Hand des Herrn erhalten haben.
26 Nun ist es nicht üblich, daß die Stimme des Volkes etwas begehrt, was im Gegensatz zu dem steht, was recht ist; sondern es ist üblich, daß der geringere Teil des Volkes das begehrt, was nicht recht ist; darum sollt ihr dies beachten und es zu eurem Gesetz machen—eure Angelegenheiten durch die Stimme des Volkes zu erledigen.
27 Und wenn die Zeit kommt, da die Stimme des Volkes das Übeltun erwählt, dann ist es Zeit, daß die Strafgerichte Gottes über euch kommen; ja, dann ist es Zeit, daß er euch mit großer Zerschlagung heimsucht, ja, wie er dieses Land bisher heimgesucht hat.
Das folgende System ist uns vertraut, und es ist gut. Es funktioniert aber nur so lange, wie die Werte auf denen es basiert, respektiert und beachtet werden, d.h. dass Übeltun nicht durch die Mehrheit des Volkes legitimiert werden und dass die Definition von Recht und Unrecht nicht der Beliebigkeit unterliegen darf. Das ist ein großes Problem unserer Zeit. Mosia äußert sich auch zur Gewohnheit, Verantwortung für eigene Fehler auf andere abzuwälzen.
28 Und nun, wenn ihr Richter habt und sie euch nicht gemäß dem Gesetz richten, das gegeben worden ist, dann könnt ihr veranlassen, daß sie von einem höheren Richter gerichtet werden.
29 Wenn eure höheren Richter nicht mit rechtschaffenem Gericht richten, dann sollt ihr veranlassen, daß eine kleine Anzahl eurer niederen Richter sich versammelt, und sie sollen eure höheren Richter richten gemäß der Stimme des Volkes.
30 Und ich gebiete euch, dies in der Furcht des Herrn zu tun; und ich gebiete euch, dieses zu tun und keinen König zu haben; damit, wenn diese Menschen Sünden und Übeltaten begehen, sie diese auf ihrem eigenen Haupt zu verantworten haben.
31 Denn siehe, ich sage euch: Die Sünden vieler Menschen sind durch die Übeltaten ihrer Könige verursacht worden; darum sind ihre Übeltaten auf dem Haupt ihrer Könige zu verantworten. …
In diesem Vorläufer einer Demokratie mahnte Mosia die Beteiligung des Volkes an und unter welchen Prinzipien diese erfolgen sollte.
33 Und vieles mehr schrieb König Mosia ihnen und legte ihnen alle die Prüfungen und Mühen eines rechtschaffenen Königs dar, ja, alle die seelischen Beschwernisse um ihres Volkes willen und auch all das Gemurre des Volkes an ihren König; und er erklärte ihnen das alles.
34 Und er sagte ihnen, daß dies nicht so sein solle, sondern die Last solle auf das ganze Volk kommen, so daß jedermann sein Teil trage.
35 Und er legte ihnen alle die Nachteile dar, denen sie ausgesetzt wären, wenn ein ungerechter König über sie herrschte;
36 ja, alle seine Übeltaten und Greuel und alle die Kriege und Streitigkeiten und das Blutvergießen und das Stehlen und das Plündern und das Begehen von Hurerei und allerart Übeltaten, die man nicht aufzählen kann—er sagte ihnen, daß dies nicht so sein solle, daß dies den Geboten Gottes ausdrücklich zuwiderlaufe.
Die Reaktion des Volkes ist interessant und die Glaubwürdigkeit Mosias imponierend. Wir würden es eine Art Basisdemokratie nennen und eine Wertschätzung der damit verbundenen Freiheiten. Dieses Bewusstsein sehen wir leider schwinden.
37 Und nun begab es sich: Nachdem König Mosia dies unter seinem Volke kundgemacht hatte, waren sie von der Wahrheit seiner Worte überzeugt.
38 Darum ließen sie ihren Wunsch nach einem König fallen und setzten sich über die Maßen dafür ein, daß jedermann im ganzen Land die gleichen Möglichkeiten habe; ja, und jedermann brachte seine Bereitschaft zum Ausdruck, sich für seine Sünden selbst zu verantworten.
39 Darum begab es sich: Sie versammelten sich in Gruppen im ganzen Land, um mit ihrer Stimme zu entscheiden, wer ihre Richter sein sollten, die sie gemäß dem Gesetz, das ihnen gegeben worden war, richten sollten; und sie hatten überaus große Freude über die Freiheit, die ihnen gewährt worden war. …
Die Folge war eine Phase großer politischer und gesellschaftlicher Stabilität, selbst im Angesicht ständiger äußerer Bedrohungen durch die Lamaniten. Dieses Kapitel ist eine geistige und politische Pflichtlektüre.
Der verstorbene Kabarettist Dieter Hildebrandt hat in seiner denkwürdigen Abschiedsrede Herbert Wehner´s vom Deutschen Bundestag in den achtziger Jahren einige der Ursachen des Glaubwürdigkeitsverlustes in der deutschen Politik kabarettistisch unvergleichlich aufgearbeitet, auch wenn hier nur eine Seite der Medaille betrachtet wird.
Das Nachdenken lohnt sich ganz sicher.